Sebastian Luik

Psychotherapie & Achtsamkeit

Sebastian Luik

Psychotherapie & Achtsamkeit

Vipassana Meditation Retreat Nepal

Vipassana – Meditations-Retreat oder Bootcamp?

Vorwort:

Vipassana ist kein entspanntes Meditations-Retreat – es ist ein knallhartes Meditations-Bootcamp. Aber dazu später mehr.

Die Anreise

Das Vipassana-Meditationscenter, das ich besuchte, liegt im Süden Nepals, nahe der Grenze zu Indien, in der Stadt Birgunj. Von Kathmandu aus sind es etwa 135 km, laut Navi eine Fahrtzeit von gut zwei Stunden. Doch wir wissen ja: In Nepal ticken die Uhren anders – oder besser gesagt, die Busse fahren anders: langsam und holprig.

Auf der Infoseite des Centers gab es nützliche Anreisehinweise: Zum einen kann man von Kathmandu mit dem Nachtbus anreisen. Die Fahrt soll 8-10 Stunden dauern, ist aber so getaktet, dass man in Birgunj um 04:00 Uhr morgens ankommt. „Was soll ich bitte um 04:00 Uhr morgens dort machen?“ Die Alternative ist eine Fahrt mit einem Jeep, die 5-6 Stunden dauern soll. „Na das klingt doch nicht schlecht.“ Also bat ich den Hotelbesitzer um Rat.

„Wo kann ich die Tickets kaufen? Wo und wann fahren die Jeeps ab?“ Er hatte leider keine Ahnung, überzeugte mich dann aber, mit dem Bus zu fahren. Dieser sei sehr viel komfortabler als die Busse meiner letzten Busreisen und außerdem versicherte er mir, dass dieser nicht um 04:00 Uhr morgens, sondern deutlich später am Ziel ankommt. Er könne das Ticket auf dem Nachhauseweg für mich besorgen. „Also gut, dann machen wir es so.“

Am Abend vor Retreatbeginn machte ich mich also mit dem Taxi zunächst zum Busbahnhof, um von dort mit dem Bus Richtung Süden zu fahren. Abfahrt war um 19:30 Uhr. Und tatsächlich, der Bus war deutlich gemütlicher, meine Beine passten zwischen die Sitze, die Stoßdämpfer erledigten ihre Aufgabe relativ gut und auch der Gesamteindruck des Busses war eine andere Liga im Vergleich zu dem, was ich bisher hier in Nepal erlebt hatte.

 

Doch dann wurde es abenteuerlich.

Mein Sitznachbar aß sein Abendessen und nachdem er dieses verspeist hatte, galt es, die Plastiktüte, den Styroporbehälter und das dazugehörige Plastikbesteck zu entsorgen. Eigentlich ein Leichtes, denn zu meiner Rechten, am Gang, befand sich ein Mülleimer. Doch er entschied sich für den etwas größeren Mülleimer → Fenster auf und weg damit.

Nach circa einer halben Stunde wurde dann der Flachbildfernseher im Frontbereich eingeschaltet. Ein Bollywood-Film flimmerte über den Bildschirm – und zu meiner Freude wurde die Lautstärke auf Maximum gestellt, sodass ich trotz Kopfhörern ein vollwertiges Klangerlebnis genießen durfte. Das war mein erster Bollywood-Film. Es gab Emotionen, Drama, Extreme – plötzlich tanzen und singen alle, dann wieder Emotionen, nochmal Emotionen, brutale Schlägerei, auf einmal tanzen und singen wieder alle gemeinsam… „Was soll ich sagen?“

Nach etwa einer Stunde Fahrt wurde das Klangerlebnis dann noch um die Würge- und Brechgeräusche einer alten Dame ergänzt. Die arme Frau hatte es unglücklicherweise richtig hart erwischt. Sie hing die komplette Busfahrt mit ihrem Kopf in der Tüte. Aber ich bin ja schon einiges gewohnt und konnte trotzdem immer mal wieder ein Auge zudrücken.

Plötzlich werde ich geweckt: „Birgunj, Birgunj, Birgunj!“
„Alright, hier muss ich wohl aussteigen. Aber halt mal, draußen ist es dunkel. Wie spät haben wir denn? 04:16 Uhr. Na toll!“

 

Nachts allein in Birgunj

Also stand ich hier, nachts, in einer fremden Stadt. Genau das, was ich vermeiden wollte.

„Es ist, wie es ist, also nachdenken.“

Ich fragte die beiden Rikschafahrer, die mir aufdringlich eine Fahrt anboten, ob es irgendwo ein Café gäbe, in dem ich für eine Weile sitzen könnte. Sie zeigten mir die Straßenstände in unmittelbarer Nähe. „Mhm, ich hab jetzt echt keinen Bock, hier am Straßenrand auf Plastikstühlen sitzend die Zeit totzuschlagen.“

Also checkte ich mit dem Handy, wo das nächste Hotel ist, und machte mich zu Fuß auf den Weg. Die Straßen waren schlecht beleuchtet, nur vereinzelt Menschen unterwegs – so richtig wohl war mir nicht, und es erinnerte mich an Vinh in Vietnam, wo ich in ähnlicher Situation von einem Taxifahrer begrabscht wurde.

Zu meinem Glück fand ich dann recht schnell ein Hotel mit besetzter Rezeption – läuft bei mir. So konnte ich mir noch ein paar Stunden Schlaf gönnen. Ich checkte ein und warf mich hundemüde ins Bett. Auf einmal juckte es mich am Rücken. „Boaaa, ne, Stechmücken.“ Dann fing es an einer anderen Stelle am Rücken an zu jucken, und dann an noch einer… und an noch einer. „Ohoh, bitte keine Bettwanzen.“ Benni und Sven hatten mir vor ein paar Tagen Horrorgeschichten über diese Biester erzählt – gar kein Bock. Also stand ich auf und checkte die Lage. „Mhmm, die Stiche sehen aus wie die von Moskitos. Wie sehen denn Bettwanzenbisse aus? Und überhaupt, wie sehen Bettwanzen aus?“

Dann wurde ich fündig: Stechmücke. Klatsch, Problem beseitigt. Zur Sicherheit checkte ich den Raum auf weitere und siehe da, klatsch… nochmal klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch. Am Ende waren es neun. Danach konnte ich endlich ein paar Stunden Schlaf nachholen.

Mittags checkte ich aus dem Hotel aus, aß in der Stadt eine Kleinigkeit und ließ mich dann mit einer Rikscha zum Meditationscenter bringen. Die Fahrt führte auf staubigen Schotterwegen durchs Hinterland, vorbei an kleinen Dörfern mit Lehmhütten. Auf der einen Seite spielten Kinder, auf der anderen halfen welche bei der Landwirtschaft.

Anhand der kurzen Eindrücke, die ich beim Vorbeifahren einfangen konnte, würde ich sagen, dass dies der wohl ärmste Flecken Erde war, den ich bisher gesehen habe – arm im Sinne von Lebensstandard und Wohlstand.

Von den Eindrücken noch etwas überfordert kam ich dann am Meditationscenter an und begab mich zur Anmeldung, wo ich freundlich empfangen wurde.

Anmeldung und Orientierungsabend

„Hoffentlich bin ich nicht wie bei meinem letzten Meditations-Retreat auf Koh Phangan der einzige Teilnehmer“, dachte ich mir. Empfangen wurde ich von drei Herren und einer Dame. Schon mal mehr los als damals.

Nach der Anmeldung wurde ich auf mein Zimmer gebracht, und auf dem Weg dorthin begegnete ich noch zwei weiteren Teilnehmern – sehr gut. Für mich gab es ein Einzelzimmer, was gar nicht so schlecht war. Natürlich kein luxuriöses Zimmer mit King-Size-Bett und Duschhimmel, aber ich wurde in den letzten Monaten schon deutlich schlechter untergebracht. Und außerdem: die heißeste Dusche meiner gesamten Asienreise.

Nachdem ich mein Gepäck abgelegt, das Bett bezogen und mich etwas gesammelt hatte, ging ich zurück zum Eingangsbereich der Anlage. Dort hatten sich mittlerweile mehrere Personen versammelt und plauderten miteinander. Ich gesellte mich dazu und wir tauschten uns alle etwas aus. Eine bunt gemischte Truppe aus aller Welt: Steven aus den USA, Lorenzo aus Frankreich, Eetu aus Finnland, Tomasz aus Polen, ein Herr aus Holland, eine Dame aus Japan, einige weitere aus Indien und Nepal. Insgesamt waren wir 20 Teilnehmer.

Der heutige Tag diente der Orientierung und Vorbereitung. Es gab ein gemeinsames Abendessen und um 20:00 Uhr eine Einführungsveranstaltung, in der der Ablauf und die Regeln der kommenden Tage erklärt wurden. Danach folgte die erste gemeinsame Meditation, und schon nach der ersten halben Stunde wusste ich: „Das wird hart!“

Was ist eigentlich Vipassana – und wie kam ich dazu, daran teilzunehmen?

Schon seit Jahren fragte ich mich, was eigentlich der Reiz daran ist, ein Leben zu führen, so zurückgezogen und von strengen Regeln geprägt wie das eines Mönchs. Oder zumindest so, wie man sich das Leben eines Mönchs eben vorstellt. Was gibt diesen Menschen so viel, dass sie alles Andere hinter sich lassen?

Sind diese Menschen glücklich? Ohne Familienleben und Freunde, wie wir es kennen. Ohne all die materiellen Besitztümer, ohne den ständigen Konsum, keinen Urlaub hier, keinen Restaurantbesuch dort, kein berufliches Leben, kein kaltes Weizen im Schein der untergehenden Sonne… Ein Leben, das so komplett anders ist als das, was für mich normal ist.

Mit der Zeit stolperte ich immer wieder über Themen wie Meditation, Minimalismus, Buddhismus, Verzicht, Glücksforschung, Spiritualität und vieles mehr. Wie auch nicht – schließlich gab es immer wieder Trends, die genau diese Themen in den Fokus rückten und uns alle mit Informationen darüber überfluteten.

Irgendwann wollte ich es einfach ausprobieren. Oder vielleicht war es auch nur eine vage Idee, dass es doch eigentlich cool wäre, mal wie ein Mönch zu leben. Soll ja schließlich möglich sein, einfach an eine Klostertür zu klopfen, hereinzustolpern und dann für eine Weile dort abzuhängen. So stellte ich es mir damals zumindest in meiner blassen Fantasie vor.

 

Der erste Schritt: Mein erstes Meditations-Retreat

Lange blieb dieser Gedanke aber nichts weiter als eine schwammige Idee – einfach nicht vereinbar mit meinem Alltag und meinen Plänen. Doch irgendwann änderten sich die Pläne. Und eines kam zum anderen.

Mein erstes Experiment in diese Richtung war ein 4-tägiges Meditations-Retreat in Deutschland. Dort wurde durchgehend geschwiegen und täglich stundenlang meditiert. Die Konfrontation mit mir selbst war so intensiv, herausfordernd und einmalig – gleichzeitig war das viele Meditieren körperlich so anstrengend, dass diese vier Tage einfach einen bleibenden Eindruck hinterlassen mussten.

Spätestens als ich dann Monate später die Entscheidung traf, auf Reisen zu gehen, war klar: Das war nicht mein letztes Experiment dieser Art.

 

Der erste Kontakt mit Vipassana

Bei einem Telefonat mit Felix erzählte ich ihm von diesen Überlegungen. Daraufhin machte er mich auf Vipassana aufmerksam – sein ehemaliger Mitbewohner besuchte regelmäßig Vipassana-Kurse und war sehr angetan davon.

Zu Beginn meiner Reise besuchte ich dann ein Meditations-Retreat in Thailand (siehe hier: Ommmmmein Gott… was passiert hier?).

Im weiteren Verlauf meiner Reise begegnete ich dann immer wieder Menschen, die mir von Vipassana erzählten – jedes Mal klang es so, als wäre es ein einzigartiges, tief transformierendes Erlebnis. Also, was genau ist dieses Vipassana?

Vipassana – Eine Meditationstechnik mit langer Tradition

Die Vipassana-Organisatoren beschreiben die Technik folgendermaßen:

"Vipassana ist eine der ältesten Meditationstechniken Indiens und bedeutet so viel wie: Die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind."

Oder etwas ausführlicher:

"Vipassana ist ein Weg der Selbstveränderung durch Selbstbeobachtung. Der Fokus liegt auf der tiefen Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist, die durch eine geschulte, auf die körperlichen Empfindungen gerichtete Achtsamkeit auf direktem Wege erfahren werden kann. Diese Empfindungen bestimmen das Leben des Körpers und beeinflussen so im ständigen Wechselspiel die Konditionierung des Geistes. Die auf eigene Beobachtung gründende, selbsterforschende Reise zu dem gemeinsamen Ursprung von Geist und Körper löst die geistigen Unreinheiten auf und führt zu einem ausgeglichenen Geist voller Liebe und Mitgefühl."

Wikipedia ergänzt dazu:

"Die Vipassana-Praxis und das Erreichen ihrer Ziele ist grundsätzlich an keine Religionszugehörigkeit gebunden. Vipassana-Meditation wird auch von Nicht-Buddhisten geübt und gelehrt. Wesentlicher Teil der verschiedenen Schulungsmethoden ist die Übung von Achtsamkeit (sati). In der psychologischen Literatur wird Vipassana-Meditation gewöhnlich „Achtsamkeitsmeditation“ statt Einsichtsmeditation genannt."

Vipassana wird weltweit in vielen Zentren und Kursen gelehrt. Doch was bedeutet es konkret, an einem solchen Kurs teilzunehmen?

 

Vipassana-Kurs: Die Regeln und der Tagesablauf

Folgende Regeln galten für den Kurs, an dem ich teilnahm:

  • Durchhaltevermögen: Es wird empfohlen, den Kurs vollständig zu absolvieren.
  • Nicht töten: Jedes Lebewesen wird respektiert und geschützt.
  • Nicht stehlen: Eigentum anderer wird selbstverständlich geachtet.
  • Kein Sex: Während des Kurses wird auf sexuelle Aktivitäten verzichtet.
  • Nicht lügen: Ehrlichkeit wird als selbstverständlich angesehen.
  • Keine Rauschmittel: Während des Kurses wird auf Alkohol, Tabak und andere Substanzen verzichtet.
  • Edle Stille: Während des Kurses wird umfassende Stille eingehalten, dies schließt sowohl verbale Kommunikation als auch Gestik und Blickkontakt mit anderen Teilnehmenden ein.
  • Strikte Trennung: Männer und Frauen haben getrennte Bereiche.

Der Tagesablauf im Vipassana-Kurs

Der gesamte Tag ist durchgetaktet. Meditiert wird fast durchgehend, mit kurzen Pausen dazwischen.

Uhrzeit Aktivität
04:00 Uhr Gong – Aufstehen
04:30 - 06:30 Uhr Meditation (Halle oder Zimmer)
06:30 - 08:00 Uhr Frühstückspause
08:00 - 09:00 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
09:00 - 11:00 Uhr Meditation (Halle oder Zimmer)
11:00 - 12:00 Uhr Mittagessen
12:00 - 13:00 Uhr Ruhepause & Gelegenheit zum Interview mit dem Lehrer
13:00 - 14:30 Uhr Meditation (Halle oder Zimmer)
14:30 - 15:30 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
15:30 - 17:00 Uhr Meditation (Halle oder Zimmer)
17:00 - 18:00 Uhr Teepause
18:00 - 19:00 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
19:00 - 20:15 Uhr Vortrag des Lehrers
20:15 - 21:00 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
21:00 - 21:30 Uhr Zeit für Fragen
21:30 Uhr Nachtruhe

Tag 1 – Ein harter Einstieg

Gong… Gong… Gong… Gong…
04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde. Aber was soll’s?“

 

Ich stand motiviert auf, sprang unter die Dusche und machte mich, noch leicht verschlafen, auf den Weg zur Meditationshalle. Hinsetzen und los geht’s.

Vorsorglich hatte ich mir schon gestern Abend ein zweites Meditationskissen geschnappt – wenn man so beweglich ist wie ein Besenstiel, sitzt es sich erhöht einfach angenehmer.

Die ersten Minuten vergingen. Dann kam der erste Druck im Oberschenkel.

„15 Minuten sind locker drin, die mache ich seit vielen Monaten regelmäßig. Aber zwei Stunden?“

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Teilnehmer in der Halle begannen, sich zu bewegen – und auch ich veränderte bald meine Sitzposition. Dann Schmerzen im linken Knie – also umpositionieren. Bald Schmerzen im Rücken – wieder umhocken.

„Ne, ich kann nicht mehr.“
Beine ausstrecken. Kurz Erleichterung. Dann doch wieder zurück in den Schneidersitz.

Dieses Mal dauerte es nicht einmal 15 Minuten, bis ich erneut eine bequemere Position suchte. Von den Schmerzen und den Lösungsfindungsversuchen abgelenkt, galt es aber, die Konzentration auf den Atem zu richten. Beobachten. Nicht steuern. Einfach nur wahrnehmen.

Tatsächlich gelang mir das ganz gut. Immer wieder gab es diese kurzen Momente, in denen mein Geist vollkommen ruhig wurde – diese friedlichen, schwerelosen Sekunden, in denen alles angenehm still war.

Und dann…

 

Laut. Wild. Schrill.

Plötzlich dröhnte aus der Ferne Musik.

„Ufff… okay, zurück zum Atem.“

Ich versuchte, mich nicht ablenken zu lassen. Es vergingen Minuten, aber die Musik hörte nicht auf.

„Was ist das? Nicht ablenken lassen. Zurück zum Atem.“

Aber es funktionierte nicht.

„Boaaa, jetzt geht’s aber echt schon lange.“ Es erinnerte mich an Indonesien, wo ständig die Gebetsrufe aus den Moscheen zu hören waren. „Machen das Hindus etwa auch? Egal. Zurück zum Atem.“

„Es klingt aber auch echt nicht schön… Zurück zum Atem.“

„Oh Mann, bitte lass das nicht jeden Tag so sein… Zurück zum Atem.“

Und so ging es weiter. Eine halbe Stunde lang. Bis dann auch noch der meditative Gesang über die Lautsprecher in der Meditationshalle erklang.

Da war es endgültig vorbei mit der Konzentration.

Als endlich der Schlussgong ertönte, war ich regelrecht erleichtert. Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhoben sich die Teilnehmer und humpelten langsam aus der Meditationshalle Richtung Speisesaal.

Zum Essen will ich gar nicht viel sagen. Es war durchweg super lecker.

 

Ein Tag voller Schmerzen – und erste Zweifel

So verlief dann auch der Rest des Tages:

Motiviert hinsetzen. Sich freuen, dass man sich gut auf den Atem konzentrieren kann. Schmerzen haben. Position wechseln. Sich zufrieden fühlen. Sich selbst dabei erwischen, dass die Gedanken abschweifen. Wieder Schmerzen. Wieder umsetzen.

Und so weiter.

Nachmittags kamen dann die ersten Zweifel:

„Schaffe ich das? Ist das wirklich was für mich?“

„Ach komm, bei den letzten Malen habe ich vier und fünf Tage durchgehalten. Ich wusste doch, dass es so kommt. Zähne zusammenbeißen.“

 

Der Abend – Eine neue Perspektive

Am Abend gab es dann neben weiteren Meditationseinheiten auch einen Videovortrag. Darin wurde über die Vipassana-Technik gesprochen – über ihre Ursprünge und ihre Wirkung.

Besonders ein Punkt blieb mir hängen:

„Der Atem ist etwas, das wir immer bei uns haben. Er eignet sich perfekt als Anker für den Geist – als Instrument, um den Verstand zu schulen, die Konzentration zu steigern und den Fokus auszubauen.“

Das reine Beobachten des Atems kann also als ein Training für die mentale Stärke und Ausdauer gesehen werden.

Diesen Gedanken fand ich spannend. Und er half mir, meinen Tag aus einer neuen Perspektive zu sehen.

Ein harter Start? Definitiv.
Aber vielleicht genau das, was ich brauchte.

 

Gong… Gong … Gong…
21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Tag 2 – Zweifel, Euphorie und ein Gedankensturm

Gong… Gong… Gong… Gong…
04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde. Heute dusche ich nach dem Frühstück und bleib noch ein paar Minuten liegen.“

Die Müdigkeit saß tief in den Knochen. Kaum Schlaf, der erste Tag in den Muskeln spürbar – und jetzt wieder zwei Stunden Meditation.

 

Die heutige Meditationsanweisung:
Den Fokus auf den Bereich Oberlippe und Nase richten. Versuchen, die Berührung des Atems an den Naseninnenwänden oder auf der Oberlippe wahrzunehmen. Der Fokus sollte noch feiner, präziser und geschärfter werden.

Doch die Realität sah so aus:

Müdigkeit. Schmerzen. Kurze Wohlfühlmomente.

Und dann – wie gestern – die schrille, nervtötende Musik.

Ich wusste bereits jetzt: Diese erste Session am Morgen wird die unbeliebteste für mich. Zwei Stunden sind einfach zu lang.

 

Morgenrituale und erste Zweifel

Nach dem Frühstück duschte ich schnell und legte mich dann noch einmal für ein paar Minuten hin. Der wenige Schlaf blieb tatsächlich eine der größten Herausforderungen bis zum Ende des Kurses.

Der weitere Tagesverlauf?
Eine Achterbahnfahrt der Gefühle.

„Ist das das Richtige für mich? Halte ich das durch? Soll ich einfach abbrechen?“
„Komm, es ist erst Tag 2. Zähne zusammenbeißen und durchhalten…“

Doch dann, in der letzten Meditation vor der Teepause, geschah etwas.

Die Musik aus der Ferne verstummte.

Und plötzlich fiel ich in einen unbeschreiblich schönen Zustand der Stille.

Der Atem dominierte mein Erleben – nicht nur hörbar, sondern auch spürbar. Die Welt zog sich zurück, bis nur noch dieses sanfte Ein- und Ausatmen übrig blieb.

Aus der Ferne hörte ich Vögel zwitschern.

Etwas in mir reagierte darauf.

Ein Schub Glücksgefühle.

Plötzlich zogen meine Mundwinkel unwillkürlich nach oben.

Ein Moment purer, friedlicher, warmer Stille.

Nur wenige Sekunden – und doch unbezahlbar.

Jeder Versuch, diesen Zustand zu reproduzieren, scheiterte. Aber egal.
Allein für diesen kurzen Moment hatten sich die letzten beiden Tage schon gelohnt.

Euphorisiert verließ ich die Halle.

Alle Zweifel, alle Sorgen, ob ich die Schmerzen aushalte, ob ich dem Ganzen mental gewachsen bin – auf einmal weg.

Ich war drin. Voll motiviert.

Mein Gehirn sprang an wie ein überdrehter Motor.

 

Ein Gedankensturm entfesselt sich

Ich ging spazieren, ließ die Gedanken fließen – und plötzlich war alles da.

„Was mache ich hier? Warum bin ich hier? Ich möchte mich selbst besser verstehen, oder?“

„Wie gelingt mir das? Was heißt es, ein Mensch zu sein?“

Die großen Fragen prasselten auf mich ein.

„Was ist mit der Annahme im Buddhismus, dass das Leben grundsätzlich von Leiden geprägt ist? Geht es darum, Wege zu finden, dies zu verinnerlichen und damit umzugehen? Oder was ist mit Aristoteles, nach dem die Glückseligkeit das Ziel allen Lebens ist?“

Oder, um Jones zu zitieren:
„Glück und Fröhlichkeit ist das, was man sich am Ende erhofft, oder?“
(Er hat übrigens einen universellen Lösungsvorschlag, aber fragt ihn selbst.)

 

Der innere Diskurs geht weiter

„Was unterscheidet uns von anderen Lebewesen?
Komme ich den Antworten näher, wenn ich sie allein suche?“

„So viele kluge Köpfe der Geschichte haben sich dieselben Fragen gestellt.
Was kann ich von ihnen lernen? Was verspreche ich mir davon? Warum will ich mich selbst verstehen? Was treibt mich an?“

Und dann:

„Mit dem Verständnis und dem Wissen möchte ich versuchen, ein besserer Mensch zu werden – freundlicher, fairer, liebevoller, rücksichtsvoller, mitfühlender, hilfsbereiter. Am Ende für mich selbst und für andere.“

„Aber was heißt überhaupt ‚besser‘?
Wer bestimmt das?
Wie verhalte ich mich richtig?
Welche Gedanken, welche Gefühle, welche Empfindungen verdienen meine Aufmerksamkeit?“

Fragen über Fragen.

Ich hatte mir viele davon schon oft gestellt – aber jetzt fühlten sie sich klarer, strukturierter, lebendiger und fruchtbarer an als je zuvor.

 

Der Drang zu schreiben – und ein Moment der Akzeptanz

Ich verspürte den starken Wunsch, diese Gedanken aufzuschreiben.

Aber ich hielt mich an die Regeln.
Kein Stift. Kein Papier.

Vielleicht war es ja genau das, was den mentalen Raum für diese Gedanken erst geschaffen hatte – die Stille, die Zurückhaltung, das Fehlen jeglicher Ablenkung.

Ich blieb stehen. Atmete tief ein.
Und dann dachte ich:

„Das Ziel von Vipassana ist ein ausgeglichener Geist voller Liebe und Mitgefühl.“

Ja. Einmal zum Mitnehmen, bitte.

 

Weitere Gedankensprünge

Mein Kopf ließ nicht locker.

„Kants kategorischer Imperativ: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.’“

„Oder wie hat es Gandhi geschafft, so zu handeln, wie er handelte? Was kann man sich von Jesus abschauen?“

Fragen. Gedanken. Ideen.

Diese Reise war weit mehr als nur Meditation.
Es war ein geistiger Marathon.

Die Gedankenspirale hielt noch die ganze Teepause an.

Doch dann…

 

Die Realität holt mich zurück

Stechender Schmerz im Oberschenkel.

Zurück in der Meditation.
Zurück in meinem Körper.

Die letzte Sitzung des Tages verlief wie gewohnt – Fokus, Schmerz, Ablenkung, Fokus.

Und dann kam er endlich:

 

Gong… Gong… Gong…
21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Tag 3 – Ein kleines spirituelles Abenteuer

Gong… Gong… Gong… Gong…
04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde. Auch heute dusche ich nach dem Frühstück.“

 

Die morgendliche Meditation stand an. Heute war die Anweisung leicht verändert:
Der Fokus lag erneut auf dem Dreieck Oberlippe-Nase, aber diesmal nicht auf dem Atem, sondern auf anderen Empfindungen.

Wärme, Kälte, Kribbeln, Stechen – alles, was auftauchte, sollte beobachtet werden.

 

Routine, Schmerz, Zweifel – und ein Schrei aus der Ferne

Zwar hatte ich noch die Motivationsreste vom gestrigen Abend, doch die Meditation verlief wieder nach dem gleichen Schema:

Läuft gut – dann Schmerzen – umsetzen – Ablenkung – innere Ruhe – Schmerz – Zweifel – sich zusammenreißen.

Die Konzentration auf andere Empfindungen war interessant, aber auch von Zweifeln begleitet.
„Was genau soll hier eigentlich passieren?“

Doch nicht nur ich hatte zu kämpfen.

In der Mittagssitzung wurde es unruhig in der Meditationshalle.

Plötzlich stand jemand auf.

Man hörte Schritte. Dann, von draußen:

Schreie.

Einige Augenblicke später kam die Person zurück, setzte sich wieder hin und meditierte weiter.

„Da musste wohl was raus“, dachte ich – und musste schmunzeln.

Nach dem Mittagessen sah ich mich knapp einem Regelbruch konfrontiert. Beim Abspülen surrte eine Stechmücke vor meinem Gesicht herum. Normalerweise hätte ich direkt nach ihr gehauen (man denke nur an den Anreisetag im Hotelzimmer – uuups), da ich aber gerade mit beiden Händen am Abspülen war, blieb ein Augenblick zum Nachdenken. „Kein lebendes Wesen zu töten“ ist eine der einzuhaltenden Regeln. Also entschied ich mich, als sie mir ein weiteres Mal vor dem Gesicht herumflog, sie wegzupusten. Dummerweise habe ich damit ihre Flugrichtung so sehr durcheinandergebracht, dass sie direkt in eine kleine Wasserpfütze im Waschbecken stürzte. „Jaaaa ehhhm, juristisch würde ich auf Freispruch wegen Notwehr plädieren…“ Tatsächlich raffte sich die Mücke aber noch auf und befreite sich aus dem Wasser. Ich war verwundert, über was ich mir hier so den Kopf zerbreche.

 

Ein unerwartetes Kribbeln – und ein spiritueller Höhenflug

Am Nachmittag gab es eine neue Regelung:

Wir durften frei wählen, ob wir in der Meditationshalle oder in unseren Zimmern meditieren wollten.

Für mich war das eine riesige Erleichterung.

Ich gebe es zu: Ich nutzte diese Sitzungen immer mal wieder, um in einem halbschlafenden Zustand etwas Energie zu tanken.

Trotzdem versuchte ich weiterhin, mich so gut wie möglich auf die Meditation zu konzentrieren.

Und dann – plötzlich – spürte ich etwas.

Ein fremdes Kribbeln oder Vibrieren im Kopf – ein paar Zentimeter hinter der Nase.

„Ohaaa, was ist das?“

Es fühlte sich so krass, so intensiv an.

„Was passiert, wenn ich den Fokus auf etwas anderes richte?“

Das Gefühl verschwand.

„Okay… Was, wenn ich mich wieder auf das Dreieck Oberlippe-Nase konzentriere?“

Es kam zurück.

 

Der Jesus-Komplex schlägt zu

Und dann machte sich das sogenannte spirituelle Ego bemerkbar.

„Ja man, ich bin voll auf dem richtigen Weg!“
„Ich habe einen besonderen Schlüssel gefunden!“
„Das muss was ganz Besonderes sein!“
„Erzähle ich dem Meditationslehrer davon?“
„Bin ich etwa auf direktem Wege zur Erleuchtung?!“

Richtiger Jesus-Komplex.

 

Die Realität holt mich zurück

Noch am selben Abend wurde ich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Im heutigen Videovortrag wurde angedeutet, dass fast jeder Vipassana-Teilnehmer irgendwann eine ihm bisher fremde oder kaum bekannte Empfindung dieser Art wahrnimmt, und dass wir den Fokus ab morgen auf den Bereich Nasenspitze-Oberlippe verkleinern würden.

 

Gong… Gong… Gong…
21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Tag 4 – Eine neue Herausforderung

Gong… Gong… Gong… Gong…
04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde. Heute auf jeden Fall wieder ein Nickerchen nach dem Frühstück.“

Der Schlafmangel hatte mich inzwischen fest im Griff, und diese kleinen Pausen wurden zur willkommenen Gewohnheit.

 

Feiner, präziser, anspruchsvoller

Heute wurde die Meditationsanweisung erneut angepasst: Der Fokus sollte noch präziser werden – beschränkt ausschließlich auf die Nasenspitze und die Oberlippe. Alle anderen Empfindungen sollten bewusst ignoriert werden.

Ich gab mein Bestes. Die Aufmerksamkeit wurde feiner und schärfer – zumindest solange, bis mein Geist wieder abschweifte oder die Schmerzen einsetzten.

Und dann kam eine neue Herausforderung hinzu…

 

Der neue Sitznachbar

Hinter mir saß nun der Teilnehmer, der die letzten Tage für sein Schniefen, Röcheln und Husten bereits negativ aufgefallen war. Offenbar hatte es Beschwerden gegeben, denn er war von seiner ursprünglichen Position an das hintere Ende des Raums versetzt worden – direkt hinter mich.

Seine Geräusche begleiteten mich die gesamte Sitzung:

Ein ständiges Schniefen, gelegentliches Röcheln und immer wieder ein herzhaftes Husten.

„Na toll. So viel zur Konzentration.“

 

Überraschende Wendung: Die eigentliche Vipassana-Praxis beginnt

Am Abend wartete erneut ein Videovortrag auf uns. Darin wurde verkündet, dass all die bisherigen Meditationsübungen lediglich als Vorbereitung dienten.

Ab morgen würde die eigentliche Vipassana-Technik beginnen.

Die letzten drei Tage – bloß Vorbereitung?

„Wie bitte?!“

Alles, was bisher anstrengend und herausfordernd gewesen war, sollte also nur das Warm-Up gewesen sein?

Einige Zweifel meldeten sich, aber gleichzeitig stieg meine Neugierde:

Was würde jetzt wohl auf mich zukommen?

Ich war gespannt und nervös zugleich, aber auch entschlossen, mich voll und ganz auf diese Erfahrung einzulassen.

 

Gong… Gong… Gong…
21:00 Uhr. „Ab ins Bett – morgen wird ein spannender Tag!“

Tag 5 – Der eigentliche Start

Gong… Gong… Gong… Gong…
04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde. Heute wieder duschen nach dem Frühstück.“

Ab heute stand eine neue Technik auf dem Programm – die eigentliche Vipassana-Praxis. Der Fokus lag nicht mehr nur auf einem kleinen Bereich um die Nase, sondern auf dem gesamten Körper. Es galt, den Körper systematisch von oben nach unten abzuscannen – Stück für Stück, von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen. Diese Methode ist in der modernen Achtsamkeitspraxis auch als „Bodyscan“ bekannt.

 

Die Aufgabe: Empfindungen beobachten. Alles, was auftaucht – Wärme, Kälte, Kribbeln, Stechen, Druck – einfach wahrnehmen, ohne darauf zu reagieren. Genau darin liegt die Herausforderung. Sobald eine unangenehme Empfindung auftritt, setzt sofort der Drang ein, sich zu bewegen, den Schmerz loszuwerden oder zumindest irgendwie darauf zu reagieren. Es geht darum, Gleichmut zu entwickeln und die Vergänglichkeit aller Empfindungen zu verstehen. Denn alles, was kommt, geht auch wieder – egal ob Schmerz, angenehme Gefühle, Gedanken oder Emotionen.

Schon in den ersten Sitzungen des Tages wurde klar: Das wird hart. Der innere Kampf begann. Zunächst ging es noch einigermaßen gut, aber sobald die ersten Schmerzen auftauchten, wurde es schwierig. Der Geist rebellierte. „Warum tue ich mir das an? Wie lange noch? Wie kann eine Stunde nur so unglaublich lang sein?“

Trotzdem war heute etwas anders: Es wurde merklich ruhiger. Immer weniger Bewegungen, immer längere Phasen, in denen niemand sich auch nur einen Millimeter bewegte. Alle schienen sich langsam an die Disziplin zu gewöhnen.

Und dann habe ich in der Abendsitzung etwas geschafft, was mir bis gestern noch unmöglich erschien: Ich blieb die komplette Stunde regungslos sitzen. Kein Umpositionieren, kein Beine ausstrecken, kein verzweifeltes Zucken. Einfach nur sitzen. Einfach nur sein. Es war nicht schmerzfrei, es war nicht angenehm – aber es war machbar. Und irgendwie fühlte es sich an wie ein kleiner persönlicher Triumph. Gedanklich klopfte ich mir auf die Schulter.

 

Gong… Gong… Gong…
21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Tag 6 – Neue Herausforderungen durch kleine Veränderungen

Gong… Gong… Gong… Gong…
04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde.“

 

Heute gab es eine kleine, aber feine Änderung in der Meditationspraxis. Statt wie bisher den Körper nur von oben nach unten abzuscannen und dann erneut oben zu beginnen, sollte der Fokus diesmal in beide Richtungen wandern – also von Kopf bis Fuß und anschließend wieder zurück nach oben. Klingt nach keinem großen Unterschied, bedeutete aber in der Praxis, dass man sich noch bewusster durch den Körper bewegen musste.

Vor der Meditationshalle hing eine Tafel mit Verhaltensregeln: keine Getränke mit in die Halle nehmen, kein unnötiges Umherblicken – und eine Regel, die mir besonders ins Auge fiel: Kein Knackenlassen der Finger. „Hä? Warum steht das extra da?“, fragte ich mich noch. Das sollte sich aber im Laufe des Tages klären.

Denn genau wie zuvor der schniefende Teilnehmer wurde heute ein weiterer Mitmeditierender nach hinten versetzt – ein Typ, der anscheinend einen ausgeprägten Hang dazu hatte, ständig seine Finger knacken zu lassen. Und jetzt saß er direkt hinter mir. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein solches Geräusch so aggressiv machen könnte.

Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, trug er eine Art Regenjacke, die mit jeder kleinen Bewegung ein lautstarkes „schscht, schscht“-Geräusch erzeugte. Wenn ich noch eine weitere Regel auf die Tafel hätte schreiben dürfen, dann wäre es definitiv gewesen: Keine Regenjacken beim Meditieren!

Aber gut, es war, wie es war, und auch damit würde ich zurechtkommen.

 

Gong… Gong… Gong…
21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Tag 7 – Zwischen „Free Flow“ und Ablenkungen

Gong… Gong… Gong… Gong…
04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde.“

 

Heute stand die Fortsetzung der gestrigen Meditationsanweisung an – allerdings mit einer kleinen, aber entscheidenden Erweiterung. Statt wie bisher strikt und systematisch Körperteil für Körperteil abzuscannen, sollten wir größere Bereiche gleichzeitig wahrnehmen und in einen sogenannten „Free Flow“ kommen.

Diesen Zustand kannte ich bereits aus früheren Meditationserfahrungen – ein wellenartiges, vibrierendes Gefühl, das sich durch den Körper zieht. Es fühlte sich für mich an, als ob langsam zähe Flüssigkeit von Kopf bis Fuß herunterläuft. Doch genau darin liegt die Herausforderung: Man soll sich nicht nach diesem angenehmen Gefühl sehnen oder versuchen, es zu erzwingen. Auch diesem Zustand begegnet man mit Gleichmut. Sobald der „Free Flow“ einsetzt, kehrt man zur systematischen Körperwahrnehmung zurück. Das versuchte ich heute – allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Der „Free Flow“ trat selten und meist nur kurzzeitig auf.

Viel präsenter waren heute allerdings andere Dinge.

 

Die beiden Herren hinter mir

Der eine mit seinem unaufhörlichen Husten und Schniefen, der andere mit seinem ständigen Gelenkeknacken und einer Plastikjacke, die bei jeder kleinsten Bewegung lautstark raschelte.

Es war kaum noch auszuhalten. Meine gesamte Erfahrungswelt bestand irgendwann nur noch aus:

Schnief, raschel, knacksknacksknacks, hust… SCHNIEF, raschel… schnief, schnief, raschel, raschel… knacks, knacks, hust, hust… HUUUUST… raschel… KNACKSKNACKS… schnief…

An Konzentration war nicht mehr zu denken. Schließlich bemerkte ich, wie ich im Kopf bereits nicht gerade meditationsfreundliche Fantasien durchspielte. Das war der Moment, in dem ich entschied, kurz die Halle zu verlassen und eine Pause einzulegen.

Später suchte ich das Gespräch mit dem Meditationslehrer. Kaum hatte ich mein Anliegen angesprochen, nickte er verständnisvoll – offenbar war ich nicht der Einzige, der diese Herausforderung hatte. Er schlug vor, dass ich von nun an in meinem Zimmer oder einer der kleinen Meditationszellen praktizieren und nur noch die drei verpflichtenden Vipassana-Sitzungen täglich in der Halle verbringen solle.

 

Gong… Gong… Gong…
21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Tag 8 – Intensive Träume und Metta-Meditation

Gong… Gong… Gong… Gong…

04:00 Uhr. „Woaaa, noch sooo müde.“

 

Wie schon bei früheren Meditationsretreats bemerkte ich auch diesmal, wie intensiv und lebendig meine Träume waren. Sogar nach jedem kurzen Powernap erinnerte ich mich bis ins kleinste Detail daran – und das Beste: Sie waren durchweg angenehm. Ein kleiner Lichtblick inmitten der körperlichen und mentalen Strapazen.

Die Möglichkeit, weniger in der Halle zu meditieren, nahm ich heute dankbar an. Ohne das ständige Husten, Schniefen, Knacksen und Rascheln sollte es doch leichter sein, in die Meditation einzutauchen – zumindest in der Theorie. Doch mein Verstand hatte andere Pläne.

Gedanken über Gedanken. Anfangs kämpfte ich noch dagegen an und versuchte immer wieder, meine Aufmerksamkeit zurück zum Atem und zu den Empfindungen zu lenken – doch irgendwann ließ ich es einfach geschehen.

 

Einführung in die Metta-Meditation

Am Abend wartete dann eine Überraschung: Ab sofort sollten wir jede Meditationseinheit mit einigen Minuten Metta-Meditation abschließen.

Ich hatte diesen Begriff schon öfter gehört, aber mich bisher noch nicht näher damit beschäftigt. Doch nun wollte ich wissen, was es damit genau auf sich hat.

Laut Wikipedia ist Metta eine Meditationspraxis, bei der eine freundlich-wohlwollende Haltung gegenüber allen fühlenden Wesen kultiviert wird. Dabei beginnt man mit liebevollen Gedanken für sich selbst und weitet diese dann schrittweise auf andere Personen aus.

Zwei spannende wissenschaftliche Erkenntnisse hierzu:

  • Eine Studie der Stanford University zeigte, dass bereits wenige Minuten Metta-Meditation ausreichen, um das Gefühl sozialer Verbundenheit zu steigern.
    (Zur Studie)

  • Eine Studie der University of North Carolina belegte, dass ein mehrwöchiger Kurs in Metta-Meditation positive Emotionen stärkt, soziale Beziehungen verbessert und körperliche Beschwerden reduziert. Die Teilnehmer berichteten über eine höhere Lebenszufriedenheit und weniger depressive Symptome. (Mehr dazu)

„Klingt vielversprechend“, dachte ich. Mal sehen, was diese Technik für mich bereithält.

Gong… Gong… Gong… 21:00 Uhr.

„Ab ins Bett!“

Tag 9 – Gedankenkarussell und Sehnsucht nach visuellen Reizen

Gong… Gong… Gong… Gong…

04:00 Uhr. „Woaaa noch sooo müde.“

 

Heute war einer dieser Tage, an denen einfach nichts funktionierte. Schon in der ersten Meditationseinheit bemerkte ich, dass mein Geist extrem unruhig war. Meine Gedanken sprangen zwischen Erinnerungen, Zukunftsplänen und völlig random Überlegungen hin und her. Die Konzentration auf die Meditation wollte einfach nicht gelingen.

Als wäre das nicht schon genug Ablenkung, bemerkte ich auch noch etwas Neues: Meine Augen waren extrem unruhig. Unter den geschlossenen Lidern zuckten sie ununterbrochen hin und her, als würden sie etwas suchen oder verarbeiten wollen.

Vielleicht war es der Mangel an visuellen Reizen. Die letzten Tage hatte ich meine Augen so oft geschlossen wie noch nie zuvor in meinem Leben. Neun Stunden täglich Meditation plus mindestens sieben Stunden Schlaf – das bedeutete, dass ich fast zwei Drittel des Tages mit geschlossenen Augen verbrachte. Kein Handy, kein Buch, keine Ablenkung, kaum visuelle Reize. Vielleicht brauchte mein Gehirn einfach wieder Input.

So oder so: Meditativ betrachtet war dieser Tag eher ein Reinfall. Die Gedanken gewannen fast jede Runde. Aber wenigstens gab es einen kleinen Fortschritt: Meine Sitzzeiten ohne Bewegung wurden immer länger.

 

Gong… Gong… Gong…

21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Tag 10 – Geschafft!

Gong… Gong… Gong… Gong…

04:00 Uhr. „Yeaaah, letzter Tag.“

 

Heute fühlte sich das Aufstehen ganz anders an. Die Müdigkeit war noch da – klar, aber die Vorfreude auf das Ende des Retreats überwog. Ich konnte es kaum glauben: Zehn Tage Vipassana. Geschafft.

Als ich hier ankam, hatte ich noch Zweifel.
„Ist das wirklich das Richtige für mich? Halte ich das durch?“

Und jetzt, am letzten Tag, merkte ich, wie sehr sich meine Einstellung verändert hat. Ich war nicht nur froh, es durchgezogen zu haben, sondern erwischte mich sogar bei dem Gedanken:
„Wann werde ich mein nächstes Vipassana-Retreat machen?“

Nach der Mittagssitzung kam dann der große Moment: Das Schweigen wurde beendet.

Als wir die Meditationshalle verließen, begegneten sich die Teilnehmenden plötzlich mit einem ganz neuen Blick. Lächeln, Erleichterung, Dankbarkeit. Eine Mischung aus tiefer Ruhe und Euphorie lag in der Luft. Man konnte förmlich spüren, wie sich die Stille der letzten Tage nun in einer Welle von Gesprächen und Austausch auflöste. Es gab so viel zu erzählen, so viel nachzuholen.

Wir lachten, wir reflektierten, wir erzählten uns gegenseitig von unseren Erfahrungen – ein richtig schöner Abschluss.

 

Gong… Gong… Gong…

21:00 Uhr. „Ab ins Bett!“

Fazit: Vipassana – und was bleibt jetzt?

Nachdem nun einige Tage vergangen sind, merke ich, wie sehr diese zehn Tage nachwirken. Die Ruhe, die Disziplin, das bewusste Wahrnehmen – all das begleitet mich noch immer. Natürlich bin ich nicht erleuchtet aus dem Retreat gegangen, aber irgendwas hat sich verändert.

Vielleicht eine neue Art, mit Gedanken und Emotionen umzugehen. Vielleicht eine tiefere Klarheit darüber, was wirklich zählt, was das Sein ausmacht.

 

Die eigentliche Herausforderung beginnt jetzt

Wie integriere ich das Erlebte in den Alltag? Meditieren ist im geschützten Raum eines Retreats eine Sache – aber was passiert, wenn der Lärm und die Ablenkungen des Lebens zurückkehren?

Ich werde versuchen, meine Meditationspraxis zu intensivieren – auch wenn es nur wenige Minuten am Tag sind. Vielleicht nicht mehr neun Stunden, aber so viel, dass ich diese innere Ruhe nicht ganz verliere.

Mal sehen, wie lange es hält. 😄

 

Was bleibt von Vipassana?

Die Fähigkeit, auch die nervigsten Geräusche mit Gleichmut zu ertragen.
Ein leichtes Trauma bei jedem Gong-Schlag. 😂

Aber mal ehrlich: Es war hart, es war intensiv – aber es hat sich gelohnt.

Und wer weiß? Vielleicht sitze ich irgendwann wieder in einer Meditationshalle, höre ein Gong-Schlagen um 04:00 Uhr und denke mir:

„Woaaa noch sooo müde.“

Nachwort

Dieser Bericht ist stark von meiner subjektiven Wahrnehmung geprägt und kann deshalb Interpretationen enthalten, die entweder von der eigentlichen Bedeutung des Kursinhalts abweichen oder ganz anders interpretiert werden können.

Außerdem kann es sein, dass ich manche Erlebnisse nicht mehr genau den Tagen zuordnen kann – weiß nimmer genau, wann was war… 😅

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